1 Jahr nach dem Terroranschlag in Hanau - unser Redebeitrag gegen das Vergessen
Am 19.02.21 jährte sich zum ersten Mal der Terroranschlag in Hanau, bei dem ein Rechtsterrorist aufgrund seines rassistischen menschenfeindlichen Weltbildes 9 junge Menschen ermordete. Als TaMaR Germany verfassten wir einen gemeinsamen Redebeitrag, welcher bei den dezentralen Kundgebungen in Bremen, Bielefeld und Hannover vorgetragen wurde.
Lechol isch jesch schem – jeder Mensch hat einen Namen.
Gökhan Gültekin, 37 Jahre.
Sedat Gürbüz, 30 Jahre.
Said Nesar Hashemi, 21 Jahre.
Mercedes Kierpacz, 35 Jahre.
Hamza Kurtović, 22 Jahre.
Vili Viorel Păun, 22 Jahre.
Fatih Saraçoğlu, 34 Jahre.
Ferhat Unvar, 22 Jahre.
Kaloyan Velkov, 33 Jahre.
Mit jedem dieser Namen war ein individuelles Leben, mit jedem dieser Namen sind die Trauer und der unwiederbringliche Verlust von Familien und Freund:innen verbunden. Für euch wird ein Schlussstrich niemals möglich sein. Erst recht nicht, solange keine vollumfängliche Aufklärung und keine institutionelle und gesamtgesellschaftliche Reflexion stattgefunden haben. Bis das nicht erfüllt ist, bleibt vor allem: kein Vergessen – und ganz viel Wut.
Wir sprechen heute hier in Solidarität mit allen, die trauern, allen, die Aufklärung verlangen, allen, die Gerechtigkeit wollen. Wir sprechen heute hier, weil es nichts bringt, die Ereignisse in Halle anzuprangern und bei Hanau wegzusehen. Wir leben in einem Land, in dem völkisches Denken nie gänzlich verschwunden ist, die Alltagserfahrungen Vieler sprechen für sich. Rechtsterrorismus als Konsequenz von rassistischer und antisemitischer Ideologie ist ein Teil der DNA dieses Landes, den es meint, bereits überwunden zu haben. Im Theater, das von Politik und Medien in Deutschland aufgeführt wird, wenn ein rechtsterroristischer Anschlag verübt oder ein solches Netzwerk aufgedeckt wird, lässt sich jedes Mal der folgende Ablauf beobachten: 1. Akt - Der verblüffte Schock, 2. Akt - Die emotionale Solidaritätsbekundung, 3. Akt - Die Verharmlosung der Tat als Einzeltat eines psychisch Kranken, 4. Akt - Der Schlussstrich und das Selbstfeiern für eine gute Aufarbeitung, und als Finale, der 5. Akt - Die zurückgekehrte, fröhliche Normalität, vielleicht hat man für das Foto eine überlebende Person eingeladen. Die Betroffenen haben in diesem Theater selten Sprechrollen. Dieses Mal ist es noch bitterer, irgendwo im zweiten Akt sind wir bereits in den ersten Corona-Lockdown reingerutscht, und ab da gab es, wie wir alle erlebt haben, vermeintlich “wichtigere” Themen. Und der Täter, bei dem sich das Narrativ des Einzeltäters festgeschrieben hat, ist eh tot.
Was bleibt, sind die Familien und Freund:innen der Überlebenden und Angehörigen, für die kein Schlussstrich möglich ist. Doch sie sind nicht passiv und vereinzelt, wie es sich die Täter:innen, einige Politiker:innen und Polizist:innen vielleicht wünschen und wie sie von der passiven Mehrheitsgesellschaft auf Fotos von offiziellen Gedenkveranstaltungen wahrgenommen werden. Sie sind wehrhaft!
Wir sprechen heute hier, weil diejenigen, die uns als die vermeintlich ‘Anderen’ sehen und deshalb umbringen wollen, sich in Netzwerken organisieren, sich Waffen besorgen, ihre Taten streamen oder online ankündigen. Das ist die Realität und wir wollen, dass diese Realität endlich von den verantwortlichen Behörden und Staatsorganen ernst genommen wird. Wir wollen, dass keine Notausgänge wie in Hanau versperrt bleiben, weil der Staat aus rassistischen Gründen Menschen kriminalisiert. Wir wollen keine Entrüstung darüber hören, wie viel den Staat der Schutz von Synagogen kostet. Wir wollen Respekt für unsere Realitäten, ernst genommen werden in unseren Ängsten und unseren Forderungen nach Aufklärung. Wir wollen alle einfach unser Leben leben, ins Café oder die Shishabar mit Freund:innen gehen, die Moschee oder Synagoge besuchen, Einkaufen gehen, ob im Supermarkt, im Kiosk oder beim benachbarten Gemüsemarkt, ohne dass wir realistisch Angst um unser Leben und um die Reaktion der Gesellschaft haben müssen, wenn der nächste Anschlag an einem dieser Orte passiert.
Dass bei rechtem Terror immer noch von Einzeltäter:innen gesprochen wird, die in der deutschen Dominanzgesellschaft mit scheinbar großem Verständnis pathologisiert und psychologisiert werden, hat genauso Kontinuität wie der Rechtsterrorismus im postnationalsozialistischen Deutschland selbst. Auch wenn die beiden Phänomene Rassismus und Antisemitismus ihre ganz eigenen Spezifika innehaben und sich durchaus auch sehr unterschiedlich äußern können, verschränken sie sich in den menschenfeindlichen Weltbildern der Attentäter:innen immer wieder. Beides sind menschenfeindliche Ideologien, die mit sehr unterschiedlichen Bildern beladen sind und in völkischer Ideologie unterschiedliche Funktionen zur Abgrenzung vom Eigenen und dem vermeintlich Fremden erfüllen. Der Hass entlädt sich dabei gegen alle, die nicht das ‘Eigene’ sind. Der Täter von Hanau war vom Verschwörungsmythos des ‘Großen Austauschs’ überzeugt, an dessen Spitze ‘die Juden’ die Strippen ziehen und die Migrationsströme steuern würden, um die ‘weiße Rasse’ abzuschaffen. Gerade deshalb muss die Kritik an Rassismus und Antisemitismus gemeinsam gedacht und gelebt werden, um die Kontinuität rechter Gewalt zu erfassen und entgegenzuwirken.
Heute gedenken wir jedem und jeder Einzelnen der neun Menschen, die so grausam heute vor einem Jahr ermordet wurden.
Unser Leben geht weiter, und dazu gehört, kein ‘Weiter so’ zu akzeptieren, menschenfeindliche Ideologien anzuprangern und das Aufdecken von rechtsideologischen und rechtsterroristischen Netzwerken zu fordern, schreckliche Verluste von lieben Menschen zu verarbeiten, füreinander da zu sein, nicht zu vergeben, nicht zu vergessen.