Ein unscheinbarer schwarzer Rucksack
Ein unscheinbarer schwarzer Rucksack
Ein Erfahrungsbericht von Simone Konwisser, 17. Oktober 2023
Fast schon provokativ stelle ich mich am Bahnsteig vor das fremde Mädchen. Beim Vorbeigehen ist mir gleich ihr unscheinbarer schwarzer Rucksack mit kleinem weißen hebräischen Schriftzug aufgefallen. Ich möchte nicht, dass ihr etwas passiert und wenn es irgendjemand wagt, sie anzusprechen, so möchte ich Zeugin sein und nicht schweigen. Sie geht in die Hocke und raucht eine Zigarette.
Ich blicke ihr ins Gesicht, ob sie mir bekannt vorkommt. Aber nein. Trotzdem beobachte ich die Leute, die auf den Bahnsteig kommen und wohin ihre Blicke gehen. Niemandem fällt das blonde rauchende Mädchen auf. Unser Zug hat Verspätung, ich überlege, ob ich ihr sage, dass ich jüdisch bin und ob sie keine Angst habe. Aber ich lasse es.
Im Zug sitzt sie mir gegenüber und liest ihr Harry Potter-Buch. Vielleicht, wenn ich meinen Davidstern an meiner Kette über meinen Pulli lege, fällt er ihr auf. Aber was, wenn er auch den anderen auffällt? Ich fühle mich, als würden wir beide einem geheimen Club angehören, von dem wir gegenseitig gar nicht wissen, dass wir dazugehören.
Würde das Wissen unser Leid und Angst vermindern? Würde sie sich freuen, dass ich auf sie aufgepasst habe? Oder möchte sie einfach ihr Buch lesen und darauf hoffen, dass wir in einer Welt leben, wo jemand mit einem unscheinbaren schwarzen Rucksack mit kleinem weißen hebräischen Schriftzug nicht auffällt?